Anatomieatlas in chinesischen Schriftzeichen versteckt

„Diese aus dem Mawangdui Han-Grab ausgegrabenen chinesischen Schriftzeichen sind die ältesten anatomischen Atlanten der Welt.“

Am 1. September 2020 veröffentlichte ein Forschungsteam unter der Leitung von Vian Shaw, einem Anatomiedozenten an der Bangor University in Großbritannien, einen Artikel in der Zeitschrift „Anatomical Record“, in dem es feststellte, dass einige aus dem Mawangdui Han-Grab ausgegrabene chinesische Schriftzeichen den ältesten noch existierenden anatomischen Atlas der Welt enthielten. Das Mawangdui Han-Grab wurde in den 1970er Jahren neben dem Fluss Liuyang ausgegraben, 4.000 Meter östlich des Bezirks Furong in der Stadt Changsha in der Provinz Hunan. Dieser Text mit dem anatomischen Atlas erschien als Grabbeigabe in der Grabgruppe von Li Cang, dem Marquis von Wei, seiner Frau und ihrem Sohn.

Chinesisch gilt als eine der am schwierigsten zu erlernenden Sprachen der Welt. Während des Forschungsprozesses bestand die erste Herausforderung für das britische Ärzteteam darin, das schwierige alte Chinesisch zu verstehen. „Zu ihrer Interpretation sind zahlreiche Fähigkeiten erforderlich. Die Forscher müssen zunächst den chinesischen Originaltext lesen und dann die im Text erwähnten Strukturen durch anatomische Untersuchungen überprüfen“, schreiben die Forscher.

Nachdem die Forscher den auf der Seide geschriebenen Text entschlüsselt hatten, stellten sie fest, dass die verschiedenen Teile des menschlichen Körpers, die durch „Meridiane“ dargestellt werden, durch den alten Seidentext hindurch sichtbar sind. So wird beispielsweise in der modernen Medizin der Verlauf der Ulnararterie, des Hauptblutgefäßes im Unterarm, in dem alten chinesischen Text „Meridian“ wie folgt beschrieben: „Er beginnt in der Mitte der Handfläche, verläuft entlang der Mitte und der Sehne von Radius und Ulna des Unterarms, erstreckt sich bis zur Sehne des Musculus biceps brachii, der Achselhöhle und ist mit dem Herzen verbunden.“

In diesem illustrierten anatomischen Atlas wird auch der „Meridian“ im Fuß erwähnt, der „an der großen Zehe beginnt, an der Innenseite der Wade und des Oberschenkels entlangläuft und mit Knöchel, Knie und Oberschenkel verbunden ist. Er verläuft durch die Adduktorenmuskeln des Oberschenkels und umschließt den Bauch.“ Dies ist eigentlich das, was wir heute den Verlauf der Vena saphena magna nennen. Dieser „Meridian“ ist dafür verantwortlich, das Blut von den Beinen zurück zum Herzen zu transportieren.

Allein auf Grundlage der im Anatomieatlas enthaltenen direkten Beweise können wir nicht mit Sicherheit zu dem Schluss kommen, dass der Atlas über eine ausreichende wissenschaftliche Grundlage verfügt. Um die Möglichkeit einer Fälschung vollständig auszuschließen, begannen die Forscher zu untersuchen, wie die alten Chinesen ihr Wissen über den menschlichen Körper erlangten und so anatomische Atlanten erstellten. Durch weitere Forschungen fanden sie heraus, dass diese Karte durch menschliche Sektionen erstellt wurde.

Ein altes Sprichwort sagt: „Unser Körper und unsere Haare sind das Geschenk unserer Eltern. Wir sollten ihnen keinen Schaden zufügen. Das ist der Beginn der kindlichen Pietät.“ Wie konnte es jemand in der Han-Dynastie wagen, einen menschlichen Körper zu sezieren und die Ergebnisse auf Seide festzuhalten? Es stellt sich heraus, dass der Körper eines gewöhnlichen Menschen nicht nach Belieben verletzt werden kann, die Überreste von Gefangenen jedoch nach Belieben entsorgt werden können. Der Vorgang der Sektion des Gefangenen Wang Sunqing wurde im „Buch Han · Biographie von Wang Mang“ aufgezeichnet: „Wang Sunqing, ein Mitglied von Zhai Yis Partei, wurde gefangen genommen. Wang Mang befahl dem kaiserlichen Arzt, dem Shangfang und dem erfahrenen Metzger, ihn zu sezieren, seine fünf inneren Organe zu messen und seinen Puls mit Bambusmatten zu messen, um festzustellen, wo er begann und endete. Er sagte, dass man damit Krankheiten heilen könne.“ Daher ist es nicht überraschend, im Mawangdui Han-Grab anatomische Atlanten zu finden.

Bis heute glauben viele Menschen, dass die Akupunkturtherapie der chinesischen Medizin lediglich eine aus Erfahrung zusammengefasste Regel sei und einer strengen wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalte. Durch Untersuchungen kommt dieser Artikel zu dem Schluss, dass „dieser anatomische Atlas der späteren Akupunkturliteratur vorausgeht und diese beeinflusst“, und widerlegt damit den Trugschluss, dass „die Anatomie der Akupunktur keine wissenschaftliche Grundlage hat“.

Seit Tausenden von Jahren untersuchen westliche Wissenschaftler die menschliche Anatomie durch das Sezieren von Leichen. Dabei erwähnen sie China, Persien oder Indien jedoch kaum, obwohl diese Zivilisationen über eine lange medizinische Tradition verfügen. So stammt beispielsweise die weltweit erste dokumentierte Kataraktoperation aus Indien im 5. Jahrhundert v. Chr. Aufgrund des späteren Verlusts vieler antiker Texte und der Hinwendung zu einer eurozentrischen Sichtweise der Medizin gelangt man jedoch zu der Annahme, dass die ältesten anatomischen Atlanten des menschlichen Körpers aus Griechenland stammen und von antiken griechischen Ärzten wie Herophilus und Erasistratus verfasst wurden. Doch dieser griechische Anatomieatlas ist im Lauf der Geschichte längst verloren gegangen, und in anderen Werken aus derselben Zeit sind nur noch Spuren seiner Existenz zu finden. Die Forscher sagten: „Diese aus dem Mawangdui Han-Grab ausgegrabenen chinesischen Schriftzeichen sind die ältesten anatomischen Atlanten der Welt.“